„Henry, das Muli – und der Weg zurück ins Leben“

Einblick in eine besondere Therapiestunde

von

Claudia Wahl- Bergstraße 34 – 66292 Riegelsberg

Wie tiefgreifend und berührend tiergestützte Therapie wirken kann, zeigt diese erste Therapiestunde mit der Jugendlichen Amik und dem Muli Henry. Die folgende Schilderung stammt aus der Abschlussarbeit einer Schülerin unserer Ausbildung – sie hat uns erlaubt, ihre Beobachtungen und Erfahrungen zu veröffentlichen. Ein schöner Beweis dafür, wie individuell, kreativ und heilsam diese Arbeit sein kann.

Das Setting – ein besonderer Ort mit besonderen Tieren

Henry, ein ehemaliges Dienst-Maultier der Gebirgsjäger, lebt heute auf einem liebevoll geführten Hof mit anderen Tieren wie Hühnern, Ziegen und einer kleinen Kuh. Er hatte eine Verletzung, darf nun aber ein leichteres, artgerechtes Leben führen. An zwei Tagen pro Woche unterstützt er die tiergestützte Therapie. Ansonsten genießt er Ausritte, Spaziergänge durch den Wald, Aufgaben im Bio-Garten – oder einfach Ruhezeit auf der Weide mit seinen Artgenossen.

Der Hof ist ein Ort zum Durchatmen – für Mensch und Tier. Bevor eine Therapiestunde beginnt, wird genau geprüft, ob Allergien oder Ängste gegenüber Tieren bestehen. Alles ist auf Achtsamkeit und Wohlfühlen ausgerichtet.

Die Klientin – Amik (15 Jahre)

Amik hat sich nach den Corona-Schulschließungen immer mehr zurückgezogen. Die Diagnose: Post-Covid. Sie leidet unter Atemnot, Panikattacken, Kraftverlust in den Händen und stark vermindertem Selbstwertgefühl. Klassische Therapieformen helfen ihr nicht – sie lehnt sie sogar ab. Ihre Eltern wünschen sich vor allem eines: dass ihr Kind wieder Freude am Leben findet.

Der Beginn – Ankommen ohne Druck

Die Sitzung findet am Wochenende statt, ohne den Stress des Schulalltags. Amik wird gemeinsam mit ihren Eltern bereits am Parkplatz empfangen – bewusst so, dass sie sich von Anfang an willkommen fühlt. Der Weg führt zuerst an den Tieren vorbei, ohne Fragen, ohne Bewertung. Einfach da sein. Neugier darf entstehen.

Im Reiterstübchen wartet eine freundliche, gemütliche Atmosphäre mit Getränken und kleinen Snacks. Die Therapeutin stellt sich vor – auch als Mutter und Mensch mit eigenem Weg. So entsteht keine klinische Distanz, sondern Vertrauen auf Augenhöhe.

Ein Gespräch auf Augenhöhe

Während die Eltern den formalen Teil ausfüllen, beginnt ein erstes Gespräch mit Amik – leicht und behutsam.

Therapeutin: Hast du auch Tiere zu Hause?

Amik: Ja, einen Hund.

Therapeutin: Wie schön! Wie heißt er denn?

Amik: Donna.

Therapeutin: Ein schöner Name. Magst du mir auf diesem Blatt hier zeigen, welche Rasse Donna ist?

(Amik zeigt auf einen Labrador, wirkt noch etwas unsicher)

Amik: So einer in der Art vielleicht…

Therapeutin: Gehst du manchmal mit ihr spazieren?

Amik: Nicht mehr alleine… Ich habe manchmal nicht genug Kraft in den Händen. Ich kann eigentlich gar nichts mehr alleine machen…

Die Therapeutin begegnet ihr mit echtem Verständnis und macht gleichzeitig Hoffnung:

Therapeutin: Das ist aber doof. Weißt du, wir können versuchen, das Stück für Stück zu verbessern. Heute lernst du jemanden kennen, der noch viel größer als Donna ist – aber du wirst das mit mir zusammen schaffen!

Die erste Begegnung – Vertrauen entsteht

Amik entscheidet sich mutig, allein mit der Therapeutin zu Henry zu gehen. Auf dem Weg dorthin begegnen ihnen Hühner, Katzen, Ziegen – das Leben auf dem Hof ist präsent und lebendig. Am Paddock ruft die Therapeutin laut: „Henry!“ Und tatsächlich – das Muli kommt sofort zum Gatter.

Amik ist sichtlich beeindruckt, dass dieses große Tier auf Zuruf erscheint. Neugier und Staunen beginnen, die Angst zu verdrängen. Die Therapeutin erzählt von Henrys Vergangenheit als Maultier bei den Gebirgsjägern und erklärt, was ein Muli eigentlich ist.

Amik zeigt keine Berührungsängste, lässt aber das Halfter beim ersten Mal noch von der Therapeutin anlegen. Dabei wird jeder Schritt erklärt – achtsam, verständlich, liebevoll. So entsteht Vertrauen. Und der erste Schritt ist getan.

Wenn ein Kind wie Amik zum ersten Mal zur tiergestützten Therapie kommt, ist das nicht einfach nur ein Termin. Es ist eine leise, behutsame Einladung. Eine Möglichkeit, Vertrauen wachsen zu lassen, Selbstwirksamkeit zu spüren – und vielleicht einen ersten Schritt zu wagen, den man sich selbst nie zugetraut hätte.

Die erste Stunde ist eine Art Probestunde, denn die Chemie zwischen allen Beteiligten – Mensch, Tier, Therapeutin – muss stimmen. Nichts wird erzwungen. Amik darf das lange Ende des Führstricks halten, während ich ebenfalls ein Stück davon halte. Gemeinsam gehen wir neben Henry, unserem Muli, zum Putzplatz. Henry wird dort angebunden.

„Amik, hast du schon mal deinen Hund gebürstet oder ein Pferd?“, frage ich.

„Ja klar, unseren Hund. Aber mir fällt ja jetzt die Bürste oft runter“, antwortet sie ehrlich.

Die Putzutensilien sind vielfältig – angepasst auf unterschiedliche Bedürfnisse. Es gibt kleine und große Bürsten, solche mit Rundknauf für leichteres Greifen, andere mit elastischen Schlaufen, die Halt geben wie ein Handschuh. Gemeinsam suchen wir aus, was für Amik am besten passt. Zunächst ist sie skeptisch. Doch dann spürt sie: Die Bürste fällt nicht gleich runter, selbst wenn meine Kraft nachlässt. Das ist neu. Und wichtig.

In dieser ersten Stunde soll Amik vor allem beobachten, mithelfen und erleben – ohne Leistungsdruck, ohne Erwartung.

Ein kleiner Ausflug mit großem Effekt

Ich schnalle Henry eine Packtasche um, in die ich zuvor etwas vorbereitet habe. Nach 40 Minuten – 60 sind angesetzt – sagen wir den Eltern Bescheid, dass wir noch eine kleine Runde drehen.

„Denkst du, dass es schwer ist, Henry zu führen? Möchtest du es mal versuchen?“, frage ich.

„Es ist bestimmt zu schwer für mich. Er ist ja viel größer als unser Hund. Das packe ich eh nicht“, sagt sie und schaut zu Boden. Die Angst, zu versagen, begleitet sie wie ein Schatten.

Während wir nebeneinander neben Henry gehen, lege ich das Ende des Stricks über die Packtasche. Henry geht ruhig weiter.

„Amik, kannst du dir vorstellen, wie wir Henry stoppen oder lenken könnten?“

„Keine Ahnung. Er ist ja kein Hund. Oder kann er auch Kommandos?“

„Henry, hoooooh“, sage ich ruhig, aber klar. Henry bleibt stehen und schaut uns an.

„Du kannst ihn loben, indem du ihm auf die Schulter klopfst. Dann weiß er, dass er etwas gut gemacht hat“, erkläre ich. Wir gehen weiter.

„Henry, scherrritt.“ Und Henry setzt sich wieder in Bewegung.

Nach einer Weile bitte ich Amik, selbst das Kommando „Henry hooooh“ zu geben. Henry bleibt tatsächlich auch bei ihr stehen. Sie lobt ihn. Und auch das Kommando zum Weitergehen klappt. Ganz kurz erschrickt sie, weil der Strick nicht direkt gehalten wird – aber Henry geht ruhig und kontrolliert. Ich erkläre ihr, dass Henry viele Jahre auf solche Situationen trainiert wurde, ein erfahrener Muli ist, ruhig und zuverlässig.

Magie in kleinen Momenten

Wir machen Halt am Reitplatz. In der Packtasche befindet sich eine kleine Überraschung: eine Sofortbildkamera – und ein Leckerli für Henry. Amik darf es ihm geben. Dabei führe ich ihre Hand, damit sie flach bleibt. Wer mehr Angst hat, kann auch meine Hand auf seiner spüren. So entsteht Vertrauen, Sicherheit – und Nähe.

„Magst du dich mal auf Henry setzen? Er bleibt ganz ruhig stehen. Wir machen keinen Schritt, nur sitzen.“

Amik nickt. Sie möchte es versuchen.

Ich habe bereits ein Podest mit breiter Treppe aufgebaut. Gemeinsam steigen wir hinauf. Die Packtaschen werden abgenommen, darunter sitzt ein gepolsterter Reitpad mit einem gut gesicherten Voltigiergurt. Amik zögert, wegen der Kraft in ihren Händen – aber ich stütze sie.

„Henry, steeeeeh.“ Der Muli bleibt wie ein Fels stehen.

Ich frage Amik, ob ich ein Foto machen darf. Sie nickt. Etwas stolz.

„Du kannst ihm auch von oben auf die Schulter klopfen. Er ist ganz brav stehen geblieben. Und du machst das auch total klasse. Ich bin stolz auf dich – dass du dich beim ersten Mal schon getraut hast, auf Henry zu sitzen.“

Ich erzähle ihr, dass Henry früher große Taschen getragen hat, durch Flüsse, über Brücken. Sogar verletzte Menschen konnte er heimbringen.

„Und du hast das heute geschafft – obwohl du schwache Hände hast.“

Amik strahlt.

Noch möchte sie nicht auf Henry reiten – aber das muss sie auch nicht. Sie durfte erleben, was alles möglich ist und nur das zählt.

Ein Schritt, der so viel mehr war.

Dieser erste Termin mit Henry war für Amik kein Reitunterricht. Es war ein leiser Sieg. Über sich selbst. Über Zweifel. Über das Gefühl, ständig zu scheitern.

Nachklang – erste Veränderung sichtbar

Zurück im Reiterstübchen gibt es eine Abschlussrunde. Amik wird gefragt, wie sie sich fühlt. Sie sagt leise, aber klar:

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich das heute schaffe.“

Die Eltern sind berührt. Auch sie hatten nicht damit gerechnet, dass ihre Tochter sich so rasch auf die Situation einlassen würde. Amik verabschiedet sich zum ersten Mal seit Langem mit einem Blick in die Augen und einem lebendigen Lächeln von Henry.

Vielleicht war es nur ein Schritt – aber für sie war es ein Schritt in eine neue Welt.

 

Danke liebe Claudia für diese tolle Abschlußarbeit und danke an den großartigen Henry

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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